Kann ich es wagen?

So schnell sich der Rauch seinen Weg in Jonas Kopf erkämpfte, so tückisch riss er sein Bewusstsein in eine ganz neue Szenerie. „Was zur Hölle? Lag ich nicht gerade noch bei Mondschein im Schlamm auf einer Insel?“ fragt sich Jona während er sich auf der Mitte einer steinernen Brücke hektisch in alle Richtungen umdreht, um Orientierung zu finden. Jene Brücke war nicht größer als ein gewöhnlicher Transporter eines Paketlieferdienstes und führte über einen gemütlich plätschernden Bach. Sowohl das Ufer hinter als auch vor ihm ist gesäumt vom gleichen hüfthohen Seegras, das er gerade noch auf der Insel mit verschwommenen Augen erkennen konnte. Und dabei bleibt seine Beobachtung auch fürs erste. Dichte Nebelschwaden gewähren ihm eine Sicht von gerade mal zwei weiteren Transporter-Längen und verwehren Jona jegliche Chance zur geografischen Einordnung. Eins ist aber klar: dem sanft leuchtenden Himmel nach zu urteilen, sollte die Nacht vorüber sein. Kaum ist diese Schlussfolgerung zuende gedacht, wird Jona von einem kalten Windstoß erfasst. Seine Arme klammern sich reflexartig an die jeweils gegenüberliegende Schulter, um sich zu wärmen. Einen Wimpernschlag darauf folgt ein weiterer, nun aber deutlich wärmerer Windstoß und lässt seine Arme wieder in die Ausgangsposition fallen. Jona ist sichtlich verwirrt. Einen derartigen Temperaturunterschied binnen Sekunden hat er bisher nur im Winter beim Betreten von Einkaufszentren erlebt. Aber in der freien Natur?
Dem letzten warmen Windstoß kann auch der Nebel nicht standhalten und offenbart, wo sich Jona befindet. Zu beiden Seiten der Brücke schimmern allmählich Silhouetten von kuppelartigen, unbewachsenen Gipfeln hervor, die zwischen ihnen ein Tal formen, durch das ein schmaler Weg gen Horizont führt. Diese Art von Gebirgsformationen kannte er nur aus den schottischen Highlands, die er in seiner späten Jugend mehrfach besucht hat. Jona ist sich mittlerweile bewusst, dass er sich in einem Traum befindet. Aber was möchte ihm sein Unterbewusstsein mit dieser charakteristischen Landschaft signalisieren? Hat diese Kulisse überhaupt einen Zweck oder möchte sein Gehirn einfach nur Lücken schließen? Diese Frage sollte zunächst unbeantwortet bleiben, denn mit dem Schwinden des Nebels kommt ein altbekannter Gast zurück auf die Bühne des skurrilen Traumspielhauses. Beißender Rauch, getragen von einem erneuten handtrocknerwarmen Windstoß, breitet sich schleichend auf der idyllischen Bachkulisse aus und gibt Jona wortlos den Warnhinweis „Besser du verschwindest hier sofort!“. Ihm kommen Zweifel. „Kann ich es wagen, ohne Ziel durch diese karge Landschaft zu laufen?“ stellt er sich zögernd diese eine Frage und setzt schlussendlich zu einem Marsch an, der sein Leben verändern wird.

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